Vergangenheit und Gegenwart in Kotowice, (früher: Kottwitz, Kr. Trebnitz)

 

Ein Apfelbaum, rote Schuhe und ein Geist, der dem Herrn Reinhard Vogt folgte

(Brief von Justyna Pobiedzinska, wohnhaft in Kotowice, an Reinhard Vogt)

 

Seitdem Herr Vogt wegfuhr, scheint mir das Dorf ein völlig anderer Platz zu sein. Es wurde irgendwie sowohl geheimnisvoll als auch mystisch. Ich habe das Gefühl, daß durch mein altes Haus die Geister zu wandern begannen, als ob sie zusammen mit Herrn Vogt eingeschleppt worden wären. Eine weiße Taube, die leidenschaftlich das Korn aus dem Feld hinter der Kirche kostet, scheint mir als eine Emanation des Heiligen Geistes. Verdammte Einbildungskraft...

Das alles fing mit Äpfeln an. In meinem Garten wachsen alte Apfelbäume. Ich schaute sie an und dachte: Wer hat sie hier gepflanzt? Ich bildete mir in Gedanken die Schicksale der potentiellen Gärtner ein. Ich wußte, daß es sicher Deutsche waren, weil die Bäume vor dem Krieg gepflanzt worden waren. Dann grub ich im Garten ein Stück einer Flasche aus, geprägte Aufschrift: Reinholdt, Breslau, dickes weißes Glas, opalisierend gegen das Licht, ähnlich einem grünen Malachit. Ich stellte mir vor, es sei eine Bierflasche. Der Mann, der den kleinen Apfelbaum pflanzte, hat an heißen Sommertagen in seinem Schatten gesessen und kaltes Bier getrunken. Der Deutsche, unter dem Baum, schien mir als mein Angehöriger. Ich dachte, ich wollte unbedingt etwas mehr über die Menschen wissen, die mein Haus gebaut haben, die dann aus dem Haus fliehen mußten.

Noch später hörte ich von einem Fund in einem ein paar Kilometer entfernten Wald. eine wunderschöne und rührende Idee der privaten Archäologie: In einem Topf, vergraben unter einer Kiefer, jetzt umgestoßen durch starken Wind, lagen ein paar rote Frauenschuhe mit Blockabsätzen, eine Brotschneidemaschine, zwei Flaschen mit Petroleum, zwei - wahrscheinlich - Fleischdosen und zwei Tassen von Rosenthal (Sorte "Maria", bis heute verkauft). Alles zerfressen, korrodiert, ausgebleicht, verschimmelt, gefallen im Kampf gegen die Zeit. Nur die Tasse sah gut erhalten aus, doch in der Hand des Finders ist sie in zwei Stücke zerfallen.

Diese zufällige Exhuminierung der menschlichen Gefühle blieb mir lange im Gedächtnis. Es war für mich selbstverständlich, daß es dieser Person, die diese Dinge unter der Kiefer vergraben hat, um etwas Wichtiges, um Gefühle ging. Die roten Schuhe und zwei Tassen: wie stark liebten sich die Menschen, die aus den Tassen getrunken haben. Wie schön mußte das Mädchen, das in den roten Schuhen im Tanz ihre Hüften vor ihrem Geliebten gewogen hat, ausgesehen haben. Vielleicht hat dieses Mädchen in roten Schuhen den Bierliebhaber, der unter meinem Baum gesessen hatte, geliebt?

Im Leben ist alles möglich, obwohl - der Zufall muß ausgeschlossen werden. An einem nebligen Morgen im November erblickte ich am Rand der Straße ziemlich große Steinblöcke. Früher stand an dieser Stelle ein Kreuz, das hier die Umsiedler aus Kielce und Umgebung gleich nach dem Krieg angebracht hatten. Irgendwie mußten sie sich den neuen und eigenartigen Platz aneignen und bändigen; am besten soll man den Raum mit bekannten Symbolen füllen. In dem exotischen Dorf sahen die Ankömmlinge zum ersten Mal Toilettenschüssel, andere Gegenstände wurden hingegen als sonderbar bemerkt: darum auch fütterten einige Menschen die Hühner aus den Tafelserviceteilen der Vorgänger - die Bücher dagegen wurden als Brennmaterial verwendet. Auch die Porträts an den Wänden wurden verbrannt. Man hat den Deutschen schlagen müssen, auch den auf dem Bildnis an der Wand.

Das Kreuz wurde in der Mitte des Dorfes vor sechzig Jahren aufgestellt. Als ein Teil des Fundaments für das Kreuz wurde das Denkmal gebraucht. Vor einigen Monaten, bevor ich die Steinblöcke an der Seite bemerkte, ist das Grundstück, auf dem das Kreuz stand, verkauft worden.

Der launische Pfarrer forderte, daß das Kreuz auf einen anderen Platz übertragen werden soll, ein paar Meter weiter. Das Grundstück wurde geheiligt und eine feierliche - doch nicht zu lange - Prozession organisiert. Das Kreuz bekam eine neue Stelle. Auf dem alten Platz blieb nur der ehemalige Sockel, der bis jetzt unter der Erde versteckt lag.

Ich schrieb die Inskription auf dem Denkmal ab: Den gefallenen Soldaten, die Bewohner des Dorfes, und weiter die Namen mit Zeitangabe des Todes der lokalen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg zum Dienst einberufen worden waren.

Nach ein paar Wochen verschiedener Interventionen bei den entsprechenden lokalen Ämtern wurde das Denkmal auf den richtigen Platz, auf dem lokalen Friedhof, aufgestellt. Ich fragte noch einige alte Frauen, die hierher als junge Mädchen vor sechzig Jahren gekommen waren, was sie dazu meinen, daß die Deutschen auf dem gleichen Friedhof mit Polen ruhen. Alle gaben einmütig zu: Ob Deutscher oder nicht, jedem solle seine Ruhe zustehen, und das Denkmal solle auf dem Friedhof stehen.

Später, ganz unerwartet, traf ich auf ein Mitglied des Volksbundes. Ich erzählte ihm die ganze Geschichte mit dem Denkmal in meinem Dorf. Er fand es sehr interessant. Ich sandte ihm auch per E-Mail den Inhalt der Inschrift, Namen der Gefallenen im Original mit Todesdaten. Ein Bild von dem Denkmal fügte ich auch bei. Kurz danach bekam ich auch eine Antwort. Es sind die Gräber in Frankreich und Belgien gefunden worden. Bedenkenswert ist, daß die damaligen Dorfbewohner nicht wußten, wo ihre Söhne, Väter, Männer und Brüder gestorben sind. Sie haben sich sicher tausend Mal den Kopf zerbrochen, was mit den Leichen geschehen ist. Sind sie in einem würdigen Grab, im Birkenwäldchen, beerdigt oder liegen sie in einem kalten Massengrab?

Ich bin also diese zufällige Person, die neunzig Jahre später erfuhr, was diese Menschen nicht gewußt haben, und das wäre so wichtig für sie gewesen. Die Welt kann echt verrückt sein. An Allerheiligen zündete ich unter dem Denkmal eine Kerze an, die vorläufig durch den eiskalten Wind ausgeblasen wurde.

Das ist aber nicht alles. Nicht nur das Denkmal brachte mir die fette Taube in Gedanken und Assoziationen mit dem Heiligen Geist. Ein junger, hellhaariger Doktor vom Volksbund schrieb mir, daß er einen ehemaligen Vorkriegsbewohner meines Dorfes gefunden habe. Er sei 80 Jahre alt und wegen der Tatsache bewegt, daß sich dieses Denkmal wiedergefunden hat. Dieser erzählte, daß er seit langen Jahren danach gesucht hatte und immer erstaunt war, wie es auf solche Weise spurlos verschwinden konnte. Wie vom Erdboden verschluckt.

In Bezug darauf fragte er nach den Umständen der Auffindung des Denkmals. Ich antwortete, und so begann meine Bekanntschaft mit Herrn Vogt. Wir schrieben traditionelle Briefe. In zwei Sprachen, Deutsch und Polnisch: Herr Vogt sprach kein Englisch, und meine Deutschkenntnisse sind zu gering, um in dieser Sprache frei zu schreiben. (Im Kopf klingen mir noch die Reste der behaltenen Sätze:"Sie machte Besen, sehr gute Besen", oder etwas absurd:"Wo ist meine Bohrmaschine?"). Trotzdem las ich diese Briefe. Dazu noch mit doppelter Freude: Herr Vogt war echt an der Geschichte des Dorfes interessiert, und er wußte davon auch viel. Überdies blieb außer Bohrmaschine und Besen noch etwas in meinem Kopf übrig - das macht mir immer Freude.

Ich bekam dicke Umschläge mit verschiedenen Dokumenten, Auszüge aus Archiven, Kopien der alten Postkarten. Ich war begeistert: ich wußte immer mehr von dem Mann, der das Apfelbäumchen gepflanzt hat, auch seine Nachbarn sind mir besser bekannt geworden. Letztendlich ist Herr Vogt gekommen, einmal hatte er zwar sein Anreisedatum der ersehnten Heimatreise verschoben. Seine Frau ist krank, und er kümmert sich um sie hingebungsvoll. Er entschied sich für Mai, die beste Zeit des Jahres. Zur Begrüßung bekam ich einen Rosenstrauß. Die Dolmetscherin, eine alte Dame mit einem verwickelten Lebenslauf, aus dem man noch einige Geschichten erzählen könnte, versuchte die Worte der pathetischen Begrüßung, voll von unnötigem Dank, zu übersetzen. Ich bemerkte, daß ich für Herrn Vogt eine Heldin geworden bin, die das Denkmal vor der Vernichtung gerettet hat.

Später erzählte Herr Vogt. Er war enorm aufgeregt, erwähnte weitere Häuser und Daten der Reihe nach und brachte eine unheimliche Menge Dokumente mit: Landkarten, Postkarten, Bilder und Archivauszüge. Erst als wir Abschied nahmen, wurde mir bewußt, daß ihn der Erwerb all dieser Dokumente viel Zeit und Engagement gekostet haben muß. Dieser Mann gab sich große Mühe, um alle Beweise der Vergangenheit zu sammeln. Jetzt teilte er mir alles mit und freute sich wie ein Kind, daß es noch jemanden auf der Welt gibt, der über die damaligen Sitten und seine Jugendzeit, Schule, den Hintergrund seiner Kindheit etwas erfahren will (Das Gedenken an den Hintergrund und an diese Stelle, wo er geboren ist, wird durch mich erhalten; das verspreche ich Ihnen, Herr Vogt!).

Den ganzen Nachmittag, voll von Gewitterwolken, wiederholte Herr Vogt ständig, daß er sich beeilen müsse. Einmal werde er nicht mehr sein, sprach er schnell. Er wiederholte immer wieder:"Ich muß noch viele Sachen nachprüfen, beschreiben, katalogisieren." In Gedanken hat er sicher schon einen Plan für die künftigen Aktivitäten gemacht.

Ich sah mir die Landkarte an: wie damals der Lauf der Oder war. Die Erinnerung an den Fluß überstand dreihundert Jahre, weil in seinem Flußbett noch immer das hohe Schilf wächst. Es ist nicht möglich, trockenen Fußes auf die andere Seite des nicht vorhandenen Flusses zu gehen.

Am Tag darauf trafen wir uns auf dem Friedhof. Herr Vogt kam mit den anderen Leuten, zwei Brüdern, sie waren die Söhne des Bäckermeisters Walter Nicke. Auf den Gesichtern der gepflegten Frauen mit geschmackvollem Goldschmuck konnte man die Zeichen der Müdigkeit sehen. Alle schauten mich mit Interesse an. Wir lächelten einander auch höflich an, während wir das Gespräch aus dem Englischen übersetzten. Der Dolmetscher haßte die Sonne, und wenn wir mit Herrn Vogt durch das Dorf gingen, mußten wir von einem zum anderen Schatten laufen. Ich erfuhr, wo die Schmiede und die Feuerwehr gewesen war, wo die zwei - von russischen Soldaten mißbrauchten und ermordeten - frommen Frauen und wo der Bürgermeister gewohnt hatten. Als Herr Vogt an seinem eigenen Haus vorbei lief, richtete er seine Augen deutlich irgendwoanders hin. Ich verstand, daß er jetzt leidet, weil sein Haus, vernachlässigt, jetzt von einem immer betrunkenen Tadzio bewohnt ist. Die anderen Häuser mit den glänzenden Fenstern ruhten in den schönen grünen Gärten, wo die ehemaligen Bewohner sich geliebt, geküßt und geweint haben mußten. Die anderen Häuser lebten noch immer, sie waren auch ständig mit menschlicher Liebe und Sorge erwärmt. Dieses Haus da ..... unglücklich, langsam von Spinnweben bedeckt, zerfressen von Kleidermotten, Holzwürmern und bedeckt von Staub. In anderen Häusern waren die alten Bodenbretter pietätvoll sauber gemacht. Der Boden bei Tadzio ist oftmals mit Erbrochenem verschmutzt. Tadzio träumte in diesem Haus nie. Es diente ihm nur als Platz, wo man ruhig trinken kann, um dann, im schmutzigen Strohlager, in Schlaf zu fallen.

Der betrunkene Nachbar, ein dreißigjähriger zahnloser Mann mit einem grauen Gesicht und ersten Spuren der Kahlheit, der vor dem Laden stand, schrie zu den Deutschen:"Heil Hitler!". Er verdeckte mit seinem stinkenden, ungewaschenen Leib die Objektive ihrer Fotoapparate, jedesmal wenn sie den Laden fotografieren wollten, in dem sich früher ein Gasthaus befand. Die Deutschen lächelten unsicher und benahmen sich, als ob "Heil Hitler" für sie "Jacobs Krönung" oder "Fröhliche Weihnachten" bedeutete. Erst die Drohung mit Polizei - in beleidigendem Tonfall - wirkte: er war weg, ich blieb in Verlegenheit und schämte mich. Ein Rassist und Antisemit hatte mir noch gefehlt, alle sollten sich um die Kirche herum versammeln, um zu zeigen, was "ein Pole kann". Ich zerbrach mir den Kopf, wie ich mich benehmen sollte! Zuletzt beendete ich den ganzen Vorfall mit einem Achselzucken und einem dummen Lächeln, denn ich kann nicht alles beeinflussen.

Zuletzt verabschiedeten wir uns. Herr Vogt war sehr gerührt. Er freute sich, daß es jemanden auf der Welt gibt, der seine Geschichten interessant findet, jemand, dem er seine Ernte historischer Forschung übergeben kann. Ich war gerührt. Ich wußte dank seiner, daß in meinem Haus ein Eisenbahner Bittner mit seiner Frau gewohnt hat, sie arbeiteten bei den "Breslauer Nachrichten". Auf den Bildern aus der lokalen evangelischen Schule fand ich drei Kinder von Bittner. Ihre Eltern hatten sicher das Gespür für Humor, weil sie ihre Kinder Erna, Ernst und Erwin genannt hatten. Die Kinder waren schön, also mußten auch die Bittners mit Schönheit beschenkt worden sein. Ich hoffe, daß sie unter dem Apfelbaum gesessen und Bier getrunken haben, zufrieden mit ihrem Leben und Glück.

Es gibt noch eine Fortsetzung, aber ich schwanke, ob ich es schreiben soll. Meine Beziehung zur Wirklichkeit ist sehr rational, ich erkläre mich als ein ungläubiger Mensch, ich glaube nicht an ewiges Leben. Trotzdem war ich Zeuge bei etwas Außergewöhnlichem und Unerklärbarem: ein paar Tage nach dem Besuch der deutschen Gäste hörten wir mit G., als ob jemand die Treppen hinaufgehen würde. Es war fast Mittag, als jemand nach oben zu uns kletterte. Nur .... es war niemand da. Der Hund schlief unten, und er bellt doch immer, wenn der Briefträger zu unserem Haus kommt, auch wenn dieser nur seinen kleinen Wagen weit von unserem Haus entfernt parkt, so ein wachsamer Hund ist er. Wir kennen doch unser Haus und seine Geräusche, das Knarren unserer Treppe, wir täuschten uns nicht, das schien uns sicher. Wir hatten uns nicht verhört. Dieser Klang war so real, daß ich bis heute fürchte, jemand würde hinter meinem Rücken auftauchen. Diese Erscheinung konnte man nur mit Achselzucken belegen. Was konnte man anderes tun?

Nach ein paar Tagen roch das Haus anders. Beim Öffnen der Eingangstür konnte man den charakteristischen Geruch der Dorfhäuser wahrnehmen, in denen alte Menschen wohnen. Das ist ein Geruch nach Würze, Staub, Nässe und noch etwas, das ich nicht benennen kann. So roch das Haus meiner Tante in Lodz. So riechen noch alte Häuser auf dem Lande. Ich dachte erst, daß es wegen der Tür sei, die wir unten eingesetzt hatten. Eine andere Luftzirkulation, es riecht nach Keller. Unser Keller roch auf diese Weise nie. Als ich mir darüber klar wurde, dachte ich in diesem Fall an die Treppen. Und an das Buch "Lunar Park" von Ellis. Da wurde auch ein Haus verrückt. Doch, zum Teufel, ich befand mich in keinem Buch, sondern im eigenen Haus. Das Haus roch drei Tage, immer intensiver eignete sich der Geruch weitere Teile des Hauses an: kroch zur Küchentür herein. Danach verschwand er, wie weggeblasen. Als ob es nie geschehen wäre. Und es geschah nichts mehr. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll! Vielleicht ist es so, daß Herr Vogt tatsächlich einen Geist mitgebracht hatte, eine Seele von jemandem, vielleicht von Erna, Ernst oder Erwin? Ich weiß, wann und wo sie starben. Wollten sie mir etwas sagen?

Jetzt endet schon meine Geschichte. Es wird keine Pointe geben, ich schreibe auch keine großen Worte über die Deutsch-Polnische Zusammenarbeit und nichts mehr. Ich fühle einfach, daß ich diese Geschichte dem Herrn Vogt, dem Eisenbahner und seiner Frau, ihren Kindern, dem Mann unter dem Apfelbaum, den Soldaten vom Denkmal, dem Mädchen mit den roten Schuhen und dem Geist vom Feld schuldig bin.

Vielleicht mache ich es auch ein bißchen für meine kleine Tochter, die eines Tages - hoffe ich - wissen wird, wohin ihre Wurzeln reichen.

 

 

 

 

 

 

 

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